Interview mit Holger Volland
Wir sind längst im digitalen Alltag angekommen
Zur Person
Holger Volland ist Transformationsexperte und Autor zum digitalen Wandel. Er ist in der Geschäftsleitung von brand eins und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Sonophilia Institutes. Zuvor war er Vice President der Frankfurter Buchmesse und gründete THE ARTS+, ein Festival für digitale Kultur. Er arbeitete bei Pixelpark in Berlin und New York, lehrte an der Hochschule Wismar und leitete die New Economy Business School von Scholz & Friends. In seinem aktuellen Buch „Die Zukunft ist smart. Du auch?“ erklärt er auf unterhaltsame Weise die fortschreitende Digitalisierung unseres Alltags.
Herr Volland, könnten Sie, jetzt im Frühjahr 2021, einen ganzen Tag komplett analog verbringen, ohne jegliche digitale Einflüsse – geht das überhaupt noch?
Mir gelingt das ab und zu, indem ich alles abschalte und Wandern gehe. Doch schon bei der Anfahrt muss ich ganz bewusst Google Maps und Spotify ausschalten. Es ist schon richtige Arbeit geworden, komplett „offline“ zu gehen, so sehr hat die Digitalisierung unseren Alltag durchdrungen. Viele digitale Einflüsse steuern wir noch nicht einmal aktiv, sondern sind ihnen als Bankkundinnen, Patienten oder Jobsuchende alternativlos ausgeliefert.
Das bringt uns zu der Frage, was der vielgenutzte Begriff „Digitalisierung“ alles umfasst?
Es gibt das schöne Zitat „Alles, was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert“. Warum? Weil digitale Lösungen in der Regel schneller und günstiger sind als analoge. Vergleichen Sie einfach mal die Kosten eines Postbriefes mit denen einer E-Mail! Heute gehört zur Digitalisierung eine Vielzahl an Produkten, Prozessen und Diensten, die auf der Erfassung, Verarbeitung und Verbreitung von Daten basieren. Die Digitalisierung betrifft Wirtschaft, Kultur, Gesundheit, Arbeitswelt, aber natürlich auch unser Privatleben. Also alles.
Ihr neuer Buchtitel lautet: „Die Zukunft ist smart. Du auch?“. Heißt das, wir müssen aufpassen, dass uns die Digitalisierung nicht überholt? Inwieweit müssen wir uns selbst auch verändern bzw. grundlegend umdenken?
Die schlechte Nachricht ist: Sie hat uns schon überholt. Die gute: Es ist nie zu spät, noch mit einzusteigen. Denn nur dann können wir auch selbstbestimmt entscheiden, ob unser Fernseher uns ausspionieren darf, ob die elektronische Patientenakte uns bessere medizinische Versorgung bietet oder was wichtig ist, wenn wir ein Jobinterview per Video führen. Es geht also längst nicht mehr darum, ob wir Digitalisierung in unser Leben lassen, sondern nur noch darum, in welcher Form. Dafür müssen wir allerdings unsere Haltung verändern und uns intensiver mit der Digitalisierung auch da beschäftigen, wo sie vielleicht kaum sichtbar ist.
In Ihrem Buch haben Sie die Bereiche Bildung und Kultur mit der Schlagzeile „Unendliche Chancen und maximale Eigenverantwortung“ versehen. Wie ist das gemeint?
Durch die digitale Transformation haben wir auf mehr Lerninhalte, Wissen und Kulturschätze Zugriff, als je ein Mensch zuvor. Wir können vormittags dem Pariser Louvre einen virtuellen Ausstellungsbesuch abstatten, nachmittags an einer Vorlesung der berühmten Stanford Universität teilnehmen und am Abend Chinesisch mit einer App lernen. Und das alles zu einem Bruchteil der Kosten, die solche Aktivitäten früher gekostet hätten. Das sind unendliche Chancen. Weil diese Möglichkeiten aber allen Menschen dieser Welt zur Verfügung stehen, wächst auch der Druck auf uns, lebenslang zu lernen, damit wir nicht überholt werden. Das funktioniert nur, indem wir uns bei Weiterbildung nicht mehr nur auf staatliche Systeme verlassen, sondern viel mehr Eigenverantwortung an den Tag legen.
Gerade bei der Aus- und Fortbildung hat sich auch bei uns im Sportverband in den letzten Jahren durch Digitalisierung viel verändert. In der Corona-Zeit wurde das noch beschleunigt durch viele neue, kreative Formate. Wird die Digitalisierung die Bereiche Lehre und Lernen in Zukunft komplett verändern?
Absolut. In der Zukunft wird es sehr viele hybride Formate geben. Bestimmte Inhalte lernt man am besten digital und am Bildschirm. Andere funktionieren besser in der Gemeinschaft und zusammen in einem Raum. Die meisten Verbände und Institutionen müssen solche Formate erst noch kreativ entwickeln und ebenso viel Mühe und Geld zu investieren, wie etwa in die Ausbildung von Trainerinnen oder Lehrern. Denn gerade im digitalen Bereich kommt sonst die Konkurrenz aus Richtungen, mit denen niemand gerechnet hätte. Peloton etwa oder Apple Fitness+ haben einen immensen Zulauf, weil die User volle Flexibilität im Training bekommen und gleichzeitig die Vorteile einer weltweiten Gemeinschaft und der besten Ausbilder genießen können. Damit will ich nicht sagen, dass diese Art zu trainieren die bessere ist. Letztlich wird aber nur zählen, was den Menschen den schnellsten Erfolg und meisten Spaß bietet.
Viele unserer (Groß-)Veranstaltungen sind vergleichbar mit großen kulturellen Events – oder sie sind solche. Welche Chancen bietet die Digitalisierung, um große Events künftig sicher, gesundheitsbewusst und nachhaltig zu gestalten?
Erst einmal ist es natürlich fantastisch, dass an vielen Großveranstaltungen am Bildschirm nun wirklich jeder Mensch teilnehmen kann, auch wenn er beispielsweise nicht reisen kann oder in der Bewegung eingeschränkt ist. Außerdem haben wir uns daran gewöhnt, dass nicht alle Programmbeiträge live auf der Bühne stattfinden müssen, sondern auch eingespielt werden können. Dadurch kann man etwa interessante Stars aus anderen Ländern einladen und spart trotzdem Reisen und CO2. Für das Publikum vor Ort hilft die Digitalisierung dabei, Zugangskontrollen etwa mit Test- und Impfnachweisen schnell und unproblematisch über das Mobiltelefon zu gestalten. Darüber hinaus können Algorithmen dabei helfen, Menschenmengen zu steuern, damit es keine Schlangen gibt oder Verkehrsstaus zu vermeiden.
Ein Thema, mit dem wir (fast) alle zu tun haben: Facebook, Twitter, Instagram, TikTok... Welchen Stellenwert nimmt Social Media bei der Digitalisierung ein?
Für meinen Geschmack einen viel zu großen Stellenwert. Es gibt wohl keinen Bereich der Digitalisierung, der so sehr in unsere Privatsphäre eingreift wie die sozialen Medien. Noch nie in der Geschichte hat eine Institution so viel intimes Wissen über Milliarden Menschen gehabt, wie Facebook, mit den Töchtern Instagram und WhatsApp, Google oder das chinesische Bytedance (die Mutter von TikTok). Aber dieses intime Wissen und unsere sehr persönlichen Daten sind dort nicht sicher. Gerade Facebook hatte viele Datenskandale in den letzten Jahren.
Es ist an der Zeit, dass hier die Politik eingreift. Es ist nämlich kein Naturgesetz, dass man auf Datenschutz verzichten muss, wenn man sich mit anderen Menschen digital vernetzten möchte. Andere Geschäftsmodelle, die mit den Daten von uns Nutzerinnen und Nutzern achtsam umgehen, sind durchaus möglich und müssen gezielt gefördert werden.
Sind wir zu leichtsinnig und gutgläubig, was unsere Daten angeht und wo lauern ernsthafte Gefahren?
Für die meisten Menschen überwiegt momentan der direkt erlebbare Nutzen in der Gegenwart, da der abstrakte Schaden eines Datenmissbrauchs nicht sichtbar ist und in der Zukunft liegt. Insofern sind wir tatsächlich zu leichtsinnig. In meinem Buch gehe ich deshalb an vielen Beispielen auf möglichen Nutzen und Gefahren ein, damit es uns leichter fällt abzuwägen, welche Dienste wir wirklich brauchen und wie wir diese dann auch sicherer machen können. Viele Menschen wissen beispielsweise nicht, dass Facebook auch dann ihre Daten sammelt, wenn sie etwa kostenlose Spiele oder Menstruationsapps auf ihrem Handy verwenden.
Auf Verbände und – oft ehrenamtlich geführte – Vereine bezogen: Wie können Datenschutz und Datensicherheit bei der Digitalisierung optimal berücksichtigt werden?
Die Daten der Mitglieder sollten mindestens genauso gut gesichert sein, wie der Zugang zu den Bankkonten. Gerade ehrenamtlich geführten Vereinen würde ich empfehlen, keine eigenen Server und Dienste zu betreiben, da der Aufwand zur Absicherung immens hoch ist und im Zweifel ein Hacker immer schneller und besser ausgestattet ist. Es gibt viele sichere Cloud-Anbieter, die sich 24/7 um nichts anderes kümmern als um die Verfügbarkeit und Sicherheit der Daten ihrer Kunden. Meine Empfehlung: Konzentrieren Sie sich auf die Vereinsarbeit und kaufen Sie die Datendienste lieber extern ein.
Ein Drittel unserer Mitglieder im BTFB sind Kinder und Jugendliche. Wir haben uns den Kinderschutz ganz oben auf die Agenda geschrieben und gerade auch eine Aktion zur Aufklärung über „Cybergrooming“ kommuniziert. Was können wir, was kann die Gesellschaft tun, um Kinder und Jugendliche vor solchen Gefahren zu bewahren?
Das ist eine sehr wichtige Aktion, die Sie da ansprechen! Allen Eltern kann ich nur raten, genau zu verstehen, welche Apps ihre Kinder nutzen und auch warum sie das tun. Für uns Ältere wirken beispielsweise TikTok-Videos oft albern und überflüssig. Für viele Jugendliche ist es aber ein wichtiger Weg, um ihre eigene Kreativität auszuleben, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und sich mit Gleichgesinnten zu verbinden. Wer aus Angst vor Missbrauch gleich eine solche App verbietet, weiß oft gar nicht, was er seinem Kind antut.
Viel wichtiger ist es, Verständnis für die Funktionsweise zu haben und eine vertrauensvolle Basis zu schaffen, damit man offen über die Gefahren sprechen kann. Für kleinere Kinder allerdings sind weder Mobiltelefone noch soziale Medien sinnvoll. Bei meinen Recherchen hörte ich beispielsweise auch Eltern aus dem Silicon Valley, die mit ihren Kindern ganz deutlich die Gefahren und Probleme von Social Media besprechen und Technologie als Werkzeug vermitteln und nicht als Zeitvertreib zum Herumscrollen.
Das Wichtigste, das wir als Gesellschaft tun können, ist insgesamt sehr viel mehr Wissen über solche Dienste zu erwerben und zu teilen. Denn wie sollen wir unsere Kinder vor etwas schützen, das noch nicht einmal die meisten Erwachsenen völlig durchschauen?
Sehen Sie weitere Nachteile wie eine „digitale Demenz“ oder auch Spielsucht im Internet?
Digitale Demenz ist eine pure Erfindung. Die gibt es nicht. Es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass die Nutzung digitaler Technologien Menschen je dümmer gemacht hätte. Spielsucht gibt es hingegen schon und diese kann durch die Änderung des Glücksspielstaatsvertrags ab diesem Jahr auch zum größeren Problem werden. Zwar soll auch hier Digitalisierung dabei helfen, beispielsweise Spielsüchtige zu identifizieren und dann zu warnen. Letztlich ist damit aber so viel Geld zu verdienen, dass gerade die Anbieter vor allem das Interesse haben dürften, viele neue Spieler für sich zu gewinnen. Und damit wird die Zahl der Spielsüchtigen steigen.
Um nochmal auf den Tag im Frühjahr 2021 zurückzukommen: Wie smart ist Ihr Alltag?
Ich nutze ein Smartphone und schaue leider jeden Morgen als erstes in die Nachrichten. Da bin ich nicht so smart. Ich versuche, vor allem europäische Technologieunternehmen zu unterstützen und kaufe ihre Apps und Dienste. Denn wenn etwas nichts kostet, zahle ich mit meinen Daten und das möchte ich nicht. Die Apps und Accounts von Facebook habe ich von meinem privaten Handy verbannt. Ebenso nutze ich keine kostenlosen Spiele mehr und zahle für meinen E-Mail-Anbieter mit seinen Servern in Frankfurt monatlich den Gegenwert eines Cappuccino.
Im letzten Jahr habe ich auch viele tolle digitale Angebote kennengelernt: etwa eine Online-Talkshow, die ein guter Freund von mir jeden Tag veranstaltet oder die Meditationsapp des Berliner Anbieters 7Mind. Das Verrückte ist, ich lerne jede Woche wieder etwas Neues dazu. Was heute noch ein sympathischer kleiner Gesundheits-Startup war, kann morgen schon zu einem Versicherungskonzern gehören. Digitaler Hausputz auf dem Handy und dem Computer gehören für mich deshalb mittlerweile ganz selbstverständlich zum Leben.
Das Interview führte Gritt Ockert.
Foto: Manuel Rauch