Interview mit Prof. Dr. Alexander Woll

Eine sich ständig wandelnde Herausforderung …

 

Zur Person

Prof. Dr. Alexander Woll ist Sportwissenschaftler und Hochschullehrer und leitet seit 2012 das Institut für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie KIT. Zuvor hatte er eine Professorenstelle für Sportwissenschaft an der Universität Konstanz. Das Thema seiner Habilitationsschrift lautet „Sportliche Aktivität im Lebenslauf und deren Wirkungen auf die Entwicklung von Fitness und Gesundheit“. Prof. Woll ist Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums für den Schulsport und den Sport von Kindern und Jugendlichen (FoSS).

Prof. Woll, Ihr Motto bei FoSS lautet: Eine sich stets wandelnde Herausforderung – Kindern und Jugendlichen Freude an der Bewegung zu vermitteln. In dieser Zeit des Wandels (nach, inmitten, ggf. vor neuen Formen der Corona-Pandemie), politischer Veränderungen, großer globaler Herausforderungen – worin besteht diese Herausforderung jetzt, im Herbst 2021?

Neben der Covid 19-Pandemie haben wir es nach wie vor mit einer Lebensstil-Pandemie des Bewegungsmangels zu tun. Die Bewegungsumwelt und das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Die Corona-Krise hat diesbezüglich als Brandbeschleuniger gewirkt. Es ist nun eine zentrale gesellschaftliche und politische Herausforderung, Bildungs‐ und Unterstützungsstrukturen so zu gestalten, dass sie die pandemiebedingten Defizite kompensieren, aber auch die bereits vorher bestehenden Ungleichheiten adressieren. Deshalb brauchen wir jetzt ein flächendeckendes Förderprogramm für Bewegung, Motorik und Gesundheit.


In Ihrem Langzeit-Forschungsprogramm am KIT geht es um die positiven Wirkungen von Bewegung und Fitness in der Lebensspanne vom Kind bis zum Senioren. Wie ist hier kurz zusammengefasst der Stand der Forschungen?

In unserer seit 2002 laufenden Längsschnittstudie – der Motorik-Modul-Studie (MoMo-Studie) – untersuchen wir die Entwicklung der körperlichen Aktivität, motorischen Leistungsfähigkeit und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Die ebenfalls längsschnittlich angelegte Studie „Gesundheit zum Mitmachen“ erfasst das Gesundheitsverhalten, den Gesundheitszustand und das Gesundheitsinteresse von Erwachsenen bis ins Seniorenalter. Wir konnten feststellen, dass körperlich-sportliche Aktivität in jedem Alter einen positiven Effekt auf die körperliche aber auch mentale Gesundheit hat. Bei Kindern und Jugendlichen ist Bewegung vor allem für eine gesunde kognitive und motorische Entwicklung wichtig, aber auch für die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und sozialen Werten. Erwachsene können biologische Altersprozesse durch körperliche Aktivität zwar nicht aufhalten, jedoch die gesunde Lebensspanne erweitern, da ein aktiver Lebensstil der Entstehung von chronischen Erkrankungen vorbeugt. Im Rahmen unserer „Gesundheit zum Mitmachen“-Studie mit Menschen der zweiten Lebenshälfte in der Gemeinde Bad Schönborn konnten wir zeigen, dass körperlich aktive Personen mit 80 Jahren den Fitness-Zustand von untrainierten 60-Jährigen haben können – „20 Jahre 60 bleiben“. Gleichzeitig ist in dieser Langzeitstudie über einen Zeitraum von 30 Jahren die Wahrscheinlichkeit, ein „metabolisches Syndrom“ (Übergewicht, Diabetes/Zucker, Bluthochdruck und eine Fettstoffwechselstörung) zu entwickeln, schon bei 2 Stunden moderater Bewegung pro Woche, z.B. zügiges Walking, um das Fünffache reduziert im Vergleich zu körperlich inaktiven Personen. Auch bei älteren Menschen mit eingeschränkter kognitiver Leistungsfähigkeit (Demenz) können mit gezielten Bewegungsprogrammen signifikante positive Effekte auf die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit erzielt werden, wie unsere Interventionsstudie mit fast 600 Personen im Durchschnittsalter von knapp 85 Jahren in 35 Altersheimen in der Region Rhein-Neckar/Karlsruhe zeigte. Viele Einschränkungen sind offensichtlich auch in dieser Lebenssituation Folge von zu hoher Passivität – „you will loose what you don´t use“.


Die Corona-Pandemie mit digitalem Unterricht, viel Medienkonsum, wenig Bewegung und Begegnung hat schlimme Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern – körperlich und psychisch. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse Ihrer aktuellen Längsschnittstudie dazu?

Im ersten Lockdown konnten wir vor allem eine starke Verschlechterung der psychischen Gesundheitsparameter beobachten. Ein Drittel der Kinder hatte psychische Auffälligkeiten. Auch die motorische Leistungsfähigkeit nahm zwischen dem ersten und zweiten Lockdown ab. 48 % der Kinder und Jugendlichen gaben an, dass sich ihre Fitness verschlechtert habe. Mit der MoMo-Studie konnten wir außerdem eine Gewichtszunahme bei 30 % und eine Gewichtsabnahme bei 10 % der Kinder und Jugendlichen feststellen. Unter den Kindern, die bereits vor der Pandemie übergewichtig waren, haben 70 % weiter zugenommen. Hier tickt eventuell tatsächlich ein relevantes zukünftiges Gesundheitsproblem.


Man sagt, dass ein, zwei Jahrgänge durch die Pandemie nicht an den Sport, an ausreichend Bewegung herangeführt wurde – wie ist dies zu kompensieren resp. aufzuholen?

Kinder können solche Entwicklungsrückstände aufholen, allerdings braucht es dafür die richtigen Programme vor allem in Bildungsinstitutionen. Deshalb benötigen wir als eine Konsequenz der Corona-Krise nicht nur einen Digital-Pakt, sondern auch einen Bewegungspakt in Form von gemeinsamen Anstrengungen auf allen politischen Ebenen hinsichtlich einer nachhaltigen Bewegungsförderung. Pädagogische Fachkräfte in Bildungseinrichtungen sollten bezüglich Bewegung ausreichend qualifiziert werden, vor allem was digitale Bewegungsangebote betrifft. Gleichzeitig ist es wichtig, Strukturen zu verändern und ausreichend Räume für Bewegung in Kommunen zur Verfügung zu stellen. Eine zentrale Forderung müsste zudem sein, in Bildungseinrichtungen eine tägliche Stunde Schulsport für alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu ermöglichen.


Worauf sollten sich Sportverbände und -vereine jetzt konzentrieren, um möglichst schnell und möglichst viele Kinder wieder in Bewegung zu bringen?

Lange wurden Sportvereine als Infektionsquelle gesehen. Bewegung sollte aber vor allem aus politischer Sicht nicht länger nur als Teil des Problems, sondern auch als Teil der Lösung gesehen werden. Es gibt klare Belege, dass Bewegung auch ein Schutzfaktor gegen eine Corona-Infektion sein kann. Zudem gibt es auf Seiten der Kinder und Jugendlichen ein starkes Bedürfnis nach analogen Bewegungsangeboten und sozialen Gruppenerlebnissen. Viele merken erst jetzt, wie bedeutend der organisierte Sport für die Gesellschaft ist. Deshalb ist es natürlich vor allem wichtig, dass Sportangebote unter bestimmten Hygienevorschriften möglich bleiben und hierfür Konzepte entwickelt werden. Zudem sollten sich Sportorganisationen auf kommunaler Ebene sowohl untereinander als auch mit Bildungsinstitutionen besser vernetzen, um Kinder langfristig an Bewegung und Sport zu binden.


Ohnehin weisen immer mehr Kinder motorische Defizite auf. Wie geht man am besten damit um?

Wichtig wäre es, dass motorische Defizite schon im Kleinkindalter aufgedeckt werden, damit frühzeitig entgegengewirkt werden kann. Die Ergebnisse der MoMo-Studie zur motorischen Leistungsfähigkeit zeigen, dass motorische Defizite, die Kinder entwickeln, im weiteren Lebenslauf sehr stabil bleiben. Generell wäre der Einsatz von motorischen Tests, z.B. der Deutsche Motoriktest (DMT), in Bildungseinrichtungen und Sportvereinen sinnvoll. Auf der Basis dieser Daten könnten Kinder auch im Motorikbereich – einem wichtigen Feld der Gesamtentwicklung von Kindern und Jugendlichen – gezielter gefördert werden.


Welche Grundlagen, welche Bewegungsfertigkeiten müssen schon im Kindesalter gelegt und gefestigt werden, damit spätere Betätigungsfelder davon profitieren können?

In Kindertagesstätten und Schulen sollte es genug Freiräume geben, in denen Kinder sich durch freies Toben ausprobieren können. Hierbei können auch Outdoor-Parcours unterstützen, in denen motorische Fähigkeiten, wie z.B. Schnelligkeit, Koordination und Kraft, schon in frühen Jahren spielerisch vermittelt werden. Genauso wichtig sind auch intensive Aktivitäten, bei denen die Kinder ins Schwitzen kommen. Hierfür bieten sich angeleitete Bewegungsprogramme, z.B. in Kooperation mit einem Sportverein, an. Auf der Basis einer breiten motorischen Grundausbildung sind sicherlich springen, laufen, hüpfen, balancieren, werfen, fangen, hangeln und rollen wichtige Bewegungsfertigkeiten für Kinder, mit denen sie sich später spezifische Sportarten erschließen können. Eine besondere Bedeutung hat sicherlich auch das „Schwimmen können“.


Was können und müssen heute über den organisierten Sport hinaus auch Kitas, Schulen und besonders der Schulsport für eine Zukunft mit regelmäßiger Bewegung leisten?

Kitas und Schulen spielen eine zentrale Rolle in der Bewegungsförderung. Vor allem Schulen sind ein äußerst wichtiges Setting, da hier alle Kinder unterschiedlicher sozialer Hintergründe erreicht werden können. Wir wissen, wie wichtig Bewegung für eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist, dennoch fallen Sportstunden häufig aus, vor allem in Pandemie-Zeiten. Wir haben es also mit keinem Erkenntnis- sondern mit einem Umsetzungsproblem zu tun. Ziel sollte sein, eine tägliche Stunde Schulsport in Bildungseinrichtungen zu ermöglichen, sodass die Mindestanforderungen der WHO, was die tägliche Bewegungsaktivität von Kindern betrifft, erreicht werden.


Welche Rolle spielt die Digitalisierung in diesem Kontext – als „Konkurrenz“ zur Bewegung bei Kindern und Jugendlichen und als Chance für mehr Bewegung durch innovative Anwendungen?

Die Ergebnisse der MoMo-Studie zeigen, dass der Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen bis zu einem gewissen Maß nicht in Konkurrenz bspw. zum Sporttreiben im Verein steht. Zudem bieten digitale Sportangebote natürlich viele Vorteile, was Vielfalt, Individualität und Flexibilität betrifft. Jedoch konnten wir gerade im zweiten Lockdown einen starken Einbruch in der körperlichen Aktivität von Kindern und Jugendlichen feststellen, während die Bildschirmzeit zur Freizeitnutzung deutlich zunahm. Es gilt, solche Trends weiterhin wissenschaftlich zu begleiten und dabei die Chancen und Risiken für Kinder und Jugendliche stets im Blick zu behalten. Erste Analysen zur Nutzung von digitalen Bewegungsangeboten in den Lockdowns zeigen, dass auf diesem Wege auch neue zuvor „bewegungsferne Gruppen“ einen Zugang zum Thema Bewegung finden können.


Täuscht der Eindruck, oder ist – gerade bei der jetzigen Elterngeneration – Leistung im Sport weniger gefragt?

Es stellt sich durchaus die Frage, wie Kinder noch dazu motiviert werden können, Leistungssport zu betreiben und inwiefern sie bereit sind, sich für eine Sportart zu quälen, während andere Dinge hintangestellt werden müssen. In unserer individualisierten Gesellschaft hat die Leistungsmotivation zunehmend an Bedeutung verloren. Aufgrund der Vielzahl an Optionen, die uns heutzutage zur Verfügung stehen, lassen sich viele Bedürfnisse leicht befriedigen, sodass die Bereitschaft zum Verzicht erst wieder entwickelt werden muss.


Der Leistungssport hat nach dem Abschneiden bei den Olympischen Spielen in Tokio – nicht zum ersten Mal – die schwindende Bedeutung, auch Akzeptanz des (Leistungs-)Sports in der Gesellschaft beklagt. Der gesamte Sport hat sich in den Hochzeiten der Corona-Pandemie von der Politik ziemlich im Stich gelassen gefühlt und führt dies u.a. ebenso auf die mangelnde Wertschätzung dessen zurück, was der Sport auch an sozialen Kompetenzen einbringt und – vor allem bei Kindern und Jugendlichen – bewirkt. Wie sehen Sie das? Brauchen wir einen Wahrnehmungswandel, mehr gesellschaftliche Akzeptanz und damit auch mehr Förderung des Sports?

Den Niedergang des organisierten Sports, der von manchen befürchtet wird, sehe ich nicht – ganz im Gegenteil. Die Corona-Pandemie hat aufgezeigt, dass Vereine eine herausgehobene Bedeutung haben und tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Dennoch sehe ich ein Problem in der schlechten finanziellen und sozialen Absicherung in vielen Bereichen des Leistungssports in Deutschland. Viele Spitzensportlerinnen und -sportler können nicht von ihrem Sport leben. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich immer weniger Jugendliche für bestimmte Sportarten entscheiden. In anderen Ländern wird die Spitzensportförderung systematischer angegangen, entweder von staatlicher Seite oder von großen Konzernen. In Deutschland erschwert der Föderalismus zumindest teilweise eine stringente Förderung. Es wäre wichtig, auch hier Maßnahmen zu entwickeln und Anreize zu schaffen, damit wieder mehr Kinder und Jugendliche an den Leistungssport herangeführt werden.


Was können Forschung und Lehre, die Hochschulen und Unis mit ihrer Kompetenz und ihren innovativen Kapazitäten zu mehr Akzeptanz und Wertschätzung beitragen?

Allumfassende Veränderungen wie die Corona-Pandemie bringen viele Herausforderungen mit sich, die es wissenschaftlich zu begleiten gilt. Was wird aus der „Generation Corona“ in den nächsten Jahren? Werden Kinder und Jugendliche gestärkt aus dieser Zeit hervorgehen und wie wird sich das Bewegungsverhalten verändern? Diesen Fragen gehen wir in der MoMo-Studie nach, welche Anfang 2022 ausläuft. Es ist dringend notwendig, solche längsschnittlich angelegten Untersuchungen weiterzuführen, um evidenzbasierte Interventionen und Maßnahmen entwickeln zu können. Zentral ist auch eine gute Wissenschaftskommunikation, sodass ein Transfer von der Theorie in die Praxis gelingt.


Bleiben wir mal bei unserem Fachgebiet: Welche relevanten Inhalte und Themen sollte die ÖA- und Medienarbeitenden im Sport vermitteln?

Zunächst wäre es wichtig, eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Thema Bewegungsmangel und Bewegungsförderung in der breiten Öffentlichkeit zu schaffen. Ist bei Eltern, pädagogischem Personal und Entscheidungsträgern mehr Bewusstsein für die Wichtigkeit des Themas gegeben, lassen sich Maßnahmen leichter umsetzen.


Ihr persönliches Motto beim Sport lautet „Schwitzen macht glücklich“ und ein Leben ohne Sport ist für Sie undenkbar - warum?

Sicherlich kann ich mir auch ein Leben ohne Sport vorstellen – jedoch wäre es nicht so schön. Ich genieße es tatsächlich in der Natur zu joggen und bei diesem Schwitzen bekomme ich die besten Ideen, die ich zum großen Teil jedoch zu Hause wieder vergessen habe – vielleicht eine Funktion der Entspannung? Es macht jedoch auch Riesenspaß, mit meinem Bruder und einigen Freunden im Tennis-Team der Senioren um Punkte und Siege zu kämpfen, um danach am Tisch „legendäre Geschichten“ zu erzählen. Da wird der Sport nicht nur zur Quelle von Fitness und Leistungsfähigkeit, sondern vielmehr zur sehr wichtigen sozialen Tankstelle.

 


Das Interview führte Gritt Ockert.


Foto: KIT/IfSS


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