Interview mit Marlies Marktscheffel

Kinder in Bewegung – unsere Kernkompetenz!

 

Zur Person

Marlies Marktscheffel, 58, TSV Rudow/Berliner Turnerschaft, Diplom Bewegungspädagogin und Dozentin für Kinder-, Jugend-, Älteren- und Gesundheitssport, für Gerätturnen und Lehrerfortbildung. Ehemalige Leistungsturnerin und Vorsitzende der BTJ, war aktiv in DTJ Gremien. Seit dem Turnfest 1987 beim BTB, baute sie ab 2003 in Bayern eine Kindersportschule auf, war Leiterin des Turnbezirks Schwaben. Seit 2010 lebt sie wieder in Berlin.

Frau Marktscheffel, Sie sind eine ausgewiesene Fachfrau fürs Kinderturnen, Autorin mehrerer Bücher zum Thema, sind als Dozentin und Presenterin immer nah an den Trends. Wie hat sich das Kinderturnen und die Ausbildung dafür im Laufe der Zeit verändert?

Als ich angefangen habe in dem Bereich Kinderturnen aktiv zu werden, verstanden wir im damaligen West-Berlin darunter noch Turnen an Geräten. Bei den Turnverbänden in West-Deutschland war dies jedoch eher so eine Art Spielturnen. Das hat mich sofort sehr interessiert.


Es waren in den 1990er Jahren sehr produktive Zeiten in der Berliner Turnerjugend mit vielen kreativen Köpfen, wie z.B. Bernd Curt, die sich unter dem damaligen BTB-Präsidenten Günter Langrock gut entfalten konnte. So waren es dann auch wir Berliner, die 1996/97 zusammen mit Ingrid Kolupa als erste in Deutschland unabhängig vom LSB eine Lizenzausbildung für Kinderturnen organisiert haben.


Da die Kinder immer weniger in den Grundlagen der Bewegungsschule ausgebildet waren, musste man in den 90er Jahren in der Ausbildung viel mehr über die Methodik gehen. Darüber habe ich in meinem ersten Buch „Übungslandschaften im Kinderturnen: der Einstieg ins Gerätturnen“ geschrieben. Doch die Situation hat sich ja nicht wirklich verbessert. In meinem zweiten Buch „Fitte Kids in Spiel und Sport – Kinderturnen“ habe ich bereits Anfang der 2000er Jahre versucht Anregungen zu geben, die dieser Entwicklung entgegenwirken können.


Die aktuelle Corona-Pandemie hat dieses ohnehin schon fatale Problem noch einmal katastrophal verstärkt. Sie meinen die zunehmende Bewegungsarmut bei Kindern?

Ja und die daraus resultierenden Defizite. Während früher die Kinder mit Freunden ganz selbstverständlich draußen waren und sich bewegt haben, wird heute immer mehr gesessen. Dazu kommt noch die Mentalität der Rasenmäher-Eltern, die versuchen alle Probleme der Kinder wegzumähen, ehe sie entstehen, sie von A nach B fahren und das „am Handy hängen“ auch noch vorleben.


Wir werden für einen Marathon pro Tag geboren und laufen nur 700 – 1500 Schritte pro Tag. Kinder brauchen Bewegung von Anfang an. Und wir müssen ihnen nicht alles „vorkauen“! Sie müssen sich ausprobieren, Spaß haben und wir dürfen ihnen etwas zutrauen. Warum lassen wir sie zum Beispiel beim Kinderturnen die Bewegungslandschaften nicht mit aufbauen? Über bestimmte Grundtätigkeiten und motorische Fähigkeiten kommen sie dann auch leichter zum Handstand oder in den Liegestütz.


Leider hat Sport wie auch schon früher keinen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Überspitzt gesagt: Wer Sport studiert, kann nichts anderes. Sportunterricht fällt zu oft aus und jeder kann es unterrichten… Seit Jahren fordern wir eine Umstellung der Lehrpläne im Sport, aber es passiert nichts: So treffen dann Lerninhalte für Bewegungsabläufe nicht etwa auf das beste motorische Lernalter zwischen 9 und 12 Jahren, sondern auf die Pubertät und den zeitgleichen Leistungsdruck in den anderen schulischen Fächern. Leider werden auch die Sportlehrerinnen und -lehrer an den Universitäten bei weitem nicht mehr so gut ausgebildet wie früher, auch, weil sie einfach oft selbst Opfer einer versäumten motorischen Ausbildung sind.


Der BTFB hat – und Sie persönlich auch – während des Lockdowns viele digitale Angebote auch für Kinder gemacht. Wie fällt Ihr Resümee aus?

Sicherlich waren diese Angebote besser als gar nichts, denn die Kinder haben aufgehört sich zu bewegen. Den Kindern ist auch die Struktur ihres Alltags verloren gegangen, darunter hat die Aufnahmefähigkeit gelitten. Als dann die Schule wieder in Präsenz stattfinden konnte, hat man gut gesehen, wie wichtig beides für Kinder ist. Ich persönlich habe viel im Umgang mit den digitalen Medien als Lehr- und Lernort gelernt. Aber gerade die praktische Arbeit ist auf diesem Wege bei weitem nicht so effektiv wie im analogen Umfeld.


Es fehlt vielfach und gerade im Kinderturnen an Übungsleiterinnen und Übungsleitern. Wie kann es gelingen, dieses Defizit zu beheben oder zumindest erst einmal zu mildern?

Zum einem muss weiter an der Außendarstellung des Kinderturnens gearbeitet werden. Oftmals wird selbst von ausgebildeten Trainern die Kinderturn-Ausbildung als „Pillepalle“ abgetan. Die wenigen Engagierten, die dann auch in der Ausbildung sehen, wie hier mit wissenschaftlich hinterlegten Fakten gearbeitet wird, sind glücklich ein Handwerkszeug erlernt zu haben, mit dem sie auch kindgerechte Angebote machen können. Ich würde mir wünschen, dass wir das klassische Gerätturnen wieder mehr in die Kinderturnausbildung einbeziehen, wie wir das im BTFB zum Teil auch schon machen. Es ist ein Unterschied zwischen „ich bin Trainer C“ oder „ich bin nur Übungsleiter“! Das ist nicht nur in der Außendarstellung, sondern auch für einen selbst kein unerheblicher Punkt.


Neue Übungsleitende kamen klassischerweise immer aus den Vereinen und dem Kreis der Aktiven. Hier müssen wir mit den Vereinen weiterhin gute Angebote machen. Aber auch Mamas und Papas, die in Kitas aktiv unterstützen wollen, sind natürlich eine Zielgruppe, die noch ein gutes und ausbaufähiges Potential hat.


Ein erfolgreiches Format ist die jährliche Fachtagung „Turnen in Schule und Kita“…

Mit einer solchen Konstanz wie in Berlin gibt es so etwas nach meinem Wissen bei keinem anderen Landesturnverband. Die Fachtagung hat bei Lehrerinnen, Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern einen großen Stellenwert. Ich unterrichte zudem auch für die Unfallkasse „Sport für Nichtsportlehrer“, damit diese auch wieder mehr an die Geräte gehen. Das ist wichtig und kommt auch sehr gut an.


Es gibt immer mehr Angebote wie z.B. „Kleine kommen ganz groß raus“, die direkt in den KITAs stattfinden, das ist sehr wichtig.


Wir als Verband müssen aber auch klar unsere Position beziehen, denn die Turnverbände sind fachlich die Institution und die Anwälte der Kinder in diesem Bereich. So wollen wir mit anderen Akteuren, wie hier z.B. Alba Berlin, die mit viel Schubkraft in diesen Bereich drängen, ins Gespräch gehen. Denn letztlich ist das Kinderturnen eine der Kernkompetenzen unseres Verbandes und nicht nur einfach ein Spielangebot für Kinder.


Der überaus beliebte und erfolgreiche Kongress in Kienbaum musste pandemiebedingt erneut abgesagt werden. Es wurde dieses Jahr viel Arbeit investiert, die Vorbereitungen waren fast abgeschlossen… Wie gehen Sie persönlich damit um?

Natürlich ist so etwas frustrierend, gerade auch für die Hauptamtlichkeit. Schon früh haben wir in der Planung mit Kursschienen gearbeitet, wofür ich mich auch sehr eingesetzt habe. So hätte es zu keinen Vermischungen in den Kursgruppen kommen können. Ein Konzept, das schon für die Fachtagung im letzten Jahr angedacht und in diesem Jahr angewandt wurde. Doch die Absage war aus gesundheitlicher Sicht die einzig richtige Entscheidung, wir haben hier eine Vorbildfunktion und dieser Verantwortung sind wir uns sehr bewusst. Persönlich habe ich mich, trotz der Enttäuschung, dann doch über drei freie Tage gefreut, die ich an der frischen Luft verbracht habe. Durch die digitalen Ersatzveranstaltungen und die große Zahl an Praxiseinheiten, die zu den normalen Kursbetrieb noch dazukamen, hat sich die Arbeit im Bildungsbereich durch Corona aktuell eher vervielfacht. Zusätzlich sind auch Referenten weggefallen. Seit fünf Jahren hatte ich keinen Urlaub und brauche dringend etwas Erholung, da waren die drei Tage nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin. So hat alles seine zwei Seiten …


Schließlich: Wie wichtig ist Bewegung in Ihrem Leben? Gibt es eigentlich Tage ohne Sport …?

Ohne Bewegung geht nichts in meinem Leben. Das bin ich: Wenn ich krank bin, gehe ich in die Turnhalle; wenn ich wiederkomme, bin ich gesund. Seit meinem vierten Lebensjahr bin ich beim Turnen. Schon meine Großmutter kam aus dem Arbeiterturnverein und mein Großonkel väterlicherseits war Bodenartist im Zirkus - wie sollte da ein Leben ohne Turnen bei mir möglich sein…? Seit ich denken kann, bin ich auch ehrenamtlich in verschiedenen Sportbereichen tätig.


Was liegt Ihnen noch am Herzen?

In meinem Fachbereich arbeite ich mit Jurij Robel von der Geschäftsstelle schon seit Jahren sehr gut zusammen, vor allem im Kinder- und Jugendbereich.


Auch die Zusammenarbeit mit Ina Tetzner von der Berliner Turnerjugend ist gut, weil wir uns sehr ergänzen, dazu kommen noch die wunderbaren Melanie Zimmermann und Hella Grundschock. Wir sind aber eigentlich keine geschlossene Gesellschaft, sondern brauchen noch „neue Menschen“, die uns als Dozenten unterstützen und sich im Akademiebereich engagieren.


Die Themen Inklusion und Kinderschutz laufen bei uns sehr gut und sind auch schon lange fester Bestandteil bei mir in der Fortbildung. Hier sollte sich jeder im Verein fragen: „Kenne ich meinen Kinderschutzbeauftragten?“ Es ist wichtig, dass wir hier im Verband weiter so vorangehen und alle Seiten für diese Thematik sensibilisieren.


Im nächsten Jahr wird die neue Turnbroschüre der Unfallkasse unter meiner Regie herauskommen. Es geht um Basisfertigkeiten im Turnen, da lohnt sich ein Blick hinein.


Was ich absolut problematisch finde ist, dass bei der Lizenzausbildung im Gesundheitsbereich teilweise unsere eigenen Mitgliedsvereine ihre Übungsleitenden zu den LSB Ausbildungen schicken, obwohl diese sogar teurer sind als unsere. Hier müssen wir mit unseren Vereinen ins Gespräch kommen, damit wir unsere Angebote besser verkaufen.


Im Bereich der Älteren, in dem ich jetzt vorwiegend tätig bin, gibt es ein großes Netzwerk, das müssen wir auch federführend im Kinderbereich aufbauen. Es ist doch Wahnsinn: Es gibt jetzt durch die Corona-Zeit Kinder, die haben noch nie eine Turnhalle von innen gesehen.


Nach der anfänglichen Corona-Pause, wo man nichts zu tun hatte, ist man nun auf 250 hochgefahren. Das schlaucht, aber ich sage immer:


Wenn wir vom Balken fallen, gehen wir wieder rauf, wir stehen immer wieder auf. Das haben wir gelernt, wir sind Turner!

 


Das Interview führte Sonja Schmeißer.


Foto: Juri Reetz


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