Interview mit Sven Albrecht

Mit den Weltspielen zu gesellschaftlichen Veränderungen

 

Zur Person

Sven Albrecht (45) war Leistungsturner in Kiel (SV Friedrichsort), studierte Diplom-Pädagogik und Sport und ist seit 2003 bei Special Olympics Deutschland (SOD), seit 2009 als Bundesgeschäftsführer. Er ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied Special Olympics Deutschland und CEO der Special Olympics World Games Berlin 2023.

Herr Albrecht, Sie arbeiten seit mehr als sechs Jahren auf das Ziel Special Olympics World Games in Berlin hin – welche Gefühle bewegen Sie jetzt auf der Zielgeraden?

Vor allem große Vorfreude, das Gefühl, dass es jetzt nach langer Planung und Vorbereitung endlich losgeht. Wir hatten in der Vorbereitungszeit mit den Folgen von Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation zu tun und konnten dies mit einem unglaublich engagierten Team und dank der großen Unterstützung aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft meistern.


Wir haben jetzt so viel öffentliche Aufmerksamkeit und so viele positive Reaktionen; wir haben ein Orga-Team mit Mitarbeitenden aus 42 Nationen, die alle für das Thema Inklusion arbeiten. Eine bisher einmalige Medien-Allianz wurde geschmiedet und berichtet von der Vorbereitung und den Spielen. Aber was ist in drei Monaten..? - Das ist das andere dominierende Gefühl in diesen Tagen: Gelingt es uns, dass die Spiele wirklich nachhaltig wirken?


Was bedeutet das, was wollen Sie, resp. Special Olympics Deutschland, mit den Weltspielen an Nachhaltigkeit erreichen?

Wir wollen gesellschaftliche Veränderung: Die Weltspiele mit ihrem riesigen Potenzial nutzen, um die Wahrnehmung von Menschen mit geistiger Behinderung nachhaltig zu verändern, die Mauern in den Köpfen einzureißen, mehr Miteinander und mehr Teilhabe im Lebensalltag zu ermöglichen. Es geht langfristig darum, flächendeckend in den Kommunen vor Ort Strukturen zu schaffen, die Inklusion dauerhaft ermöglichen. Und: Nur 8 Prozent der Menschen mit geistiger Behinderung können bisher in den Vereinen des organisierten Sports dabei sein. Erst wenn künftig Menschen mit Behinderung genauso Sport treiben und ihren Lebensalltag mit uns teilen können wie alle anderen auch, haben wir unser Ziel wirklich erreicht.


Herausragend für eine Sportveranstaltung dieser Dimension ist dabei das Konzept des Host Town Programms, an dem auch fünf Berliner Bezirke beteiligt sind. Wie ist hier der Stand der Dinge?

Wir haben schon bei unserer Bewerbung um die Weltspiele immer betont, dass wir sie als eine deutschlandweite Bewerbung sehen. Beim Host Town Program, einem festen Bestandteil der SOWG, lernen die Teilnehmenden vier Tage vor dem offiziellen Start in verschiedenen Kommunen Lande und Leute kennen, können sich akklimatisieren und trainieren. Wir haben dieses Konzept zur größten bundesweiten inklusiven Bewegung auf kommunaler Ebene erweitert und mit bestehenden SOD-Programmen vernetzt.


Insgesamt beteiligen sich mehr als 200 Kommunen, die Delegationen empfangen und betreuen – und alle haben ein Konzept für Nachhaltigkeit im Sinne der Inklusion eingebracht. Das ist schon jetzt ein großer Erfolg und bietet gute Voraussetzungen, dass in den Kommunen auch nach den Weltspielen an diesen inklusiven Strukturen und Projekten weitergearbeitet wird.


SOD ist bekannt dafür, Athletinnen und Athleten aktiv zu beteiligen. Wie geschieht das in der Vorbereitung der Weltspiele?

Die Athletinnen und Athleten sind Teil der Organisation der Spiele. Mit ihrem Expertenwissen sind sie in allen fachlichen Gremien vertreten, einige von ihnen sind im lokalen Organisationskomitee LOC fest angestellt. Sie waren Gestalter bei den Nationalen Spielen 2022, wirken in den Projekten und in den regulären Arbeitsgruppen und Ausschüssen von Special Olympics Deutschland mit. Das Team der Athletensprecherinnen und -sprecher ist aktiv an allen strategischen Prozessen und Entscheidungen beteiligt. Zudem repräsentieren sie die Special Olympics Bewegung und unseren Verband in der Öffentlichkeit und den Medien – und das in unvergleichlich authentischer und emotionaler Art und Weise.


Wie viele Athletinnen und Athleten aus Deutschland gehen bei den Weltspielen an den Start?

Das #TeamSOD umfasst 414 Sportlerinnen und Sportler und die Vorfreude ist riesig! Sie haben gerade alle gemeinsam die Einkleidungs-Veranstaltung im April in Berlin erlebt. Das hat den Zusammenhalt und die Identifikation natürlich noch einmal verstärkt. Derzeit bereiten sich die Aktiven in speziellen Lehrgängen gezielt in ihren Sportarten-Teams auf das Großereignis vor. Natürlich werden sie, wie die gesamte deutsche Delegation, auch als Botschafterinnen und Botschafter für Deutschland und für die Athletinnen und Athleten aus aller Welt wahrgenommen werden. Dessen sind sie sich bewusst und werden diese Rolle mit Engagement und Bravour ausfüllen, da bin ich mir ganz sicher.


Bei den Weltspielen finden Wettbewerbe in 26 Sportarten statt. Welche Rolle spielen die Sportfachverbände in der Vorbereitung und vor Ort und welche strategischen Überlegungen stehen dahinter?

In allen Sportarten sind die jeweiligen Spitzen- bzw. Fachverbände einbezogen. Wir haben mit den meisten ohnehin Kooperationsvereinbarungen, jetzt wird diese Zusammenarbeit natürlich noch einmal wesentlich intensiviert. Es geht um die bestmögliche Ausrichtung der Wettbewerbe, die fachliche Kompetenz, um beste Bedingungen für die Athletinnen und Athleten aus aller Welt. Aber natürlich steht dahinter die strategische Ausrichtung permanenter Zusammenarbeit mit dem Ziel, die Sportvereine für Menschen mit geistiger Behinderung zu öffnen und gemeinsames Sporttreiben auch auf Wettbewerbsebene zu ermöglichen. Mit DTB-Präsident Dr. Alfons Hölzl bin ich auch in der Sprechergruppe der Spitzenverbände - eine zusätzliche Vernetzung.


Sie waren selbst aktiver Leistungsturner – wie finden Sie es, dass jetzt - zumindest aus deutscher Sicht erstmals - Turnen und RSG im Wettbewerbsprogramm dabei sind?

Als Turner meine ich – es war längst überfällig, die ersten Wettbewerbe in den beiden Sportarten durchzuführen. Es sind großartige Sportarten! Ich muss sagen, dass ich bei internationalen Veranstaltungen schon sehr beeindruckt war vom gebotenen sportlichen Niveau. Wir sind jetzt als Anfänger im kleinen Maßstab dabei und haben viel Nachholbedarf. Aber natürlich bieten die Wettbewerbe hier eine hohe Motivation, um Turnen und Rhythmische Sportgymnastik künftig bei SOD weiterzuentwickeln. Dass in der RSG jetzt im Zuge der Vorbereitungen Übungsleiterinnen und Kampfrichterinnen fortgebildet wurden und sich außer den Initiatorinnen in Bayern und Berlin weitere Vereine öffnen, ist der richtige Weg.


Mit dem Deutschen Turner-Bund und der Deutschen Turnerjugend gibt es eine Kooperationsvereinbarung, geschlossen bei der Turn-WM 2019 in Stuttgart. Was erhoffen Sie sich diesbezüglich jetzt an Impulsen?

Generell verfolgen die Turnerbünde einen breitensportlichen Gedanken, es geht darum, dass viele Menschen in Bewegung kommen und alle einbezogen werden. Das ist ja schon der Ansatz, um Inklusion mitzudenken, Menschen mit Behinderung mitzunehmen in den Sportarten und Mitmachangeboten. Das müssen wir gemeinsam voranbringen.


Außerdem gibt es vergleichbare Erfahrungen bei der Durchführung von Großveranstaltungen. So haben wir die Expertise von DTB und BTFB auf verschiedenen Ebenen in den Arbeitsgruppen einbezogen. Auch da wünschen wir uns eine Fortsetzung – zum Beispiel beim Internationalen Deutschen Turnfest 2025.


Was sind diesbezüglich Ihre Wünsche für Leipzig 2025?

Inklusion. Zum Beispiel fürs Turnfest-Volunteering, das inklusiv sein sollte, das ist ein gutes Thema für ein nachhaltiges Miteinander. Inklusive Schauturngruppen spielen eine zentrale Rolle bei der Einbeziehung und Gemeinsamkeit von Menschen mit und ohne Behinderung. Das wird man auch jetzt bei den Auftritten Ihrer Berliner Gruppen im Rahmen des Special Olympics Festivals am Neptunbrunnen sehen. Und das wünschen wir uns in großem Umfang dann auch beim Turnfest.


Aber eine Weiterentwicklung bedeutet ganz klar auch die Einbeziehung in die Wettbewerbe! Das Ziel muss sein, dass es Special Olympics Wettbewerbe in den Sportarten gibt, dass Einrichtungen der Behindertenhilfe einbezogen werden und mit Athletinnen und Athleten teilnehmen können.


Worauf dürfen sich die Stadiongala-erfahrenen Turnerinnen und Turner bei der Eröffnungsveranstaltung der SOWG am 17. Juni im Berliner Olympiastadion freuen?

Etwas Besonderes wird der Einmarsch der 185 Delegationen sein, wie die gesamte Veranstaltung die Athletinnen und Athleten in den Mittelpunkt stellt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet als Schirmherr die Special Olympics World Games Berlin 2023. Während Bundeskanzler Olaf Scholz und unsere SOD-Präsidentin Christiane Krajewski die Gäste und Zuschauenden aus aller Welt begrüßen, wird Timothy Shriver, Vorsitzender der weltweiten Special Olympics Bewegung, die 7.000 Athletinnen und Athleten in Empfang nehmen.


Es wird eine große internationale und inklusiv geprägte Show geben, in der unter anderem rund 700 Akteure aus der ganzen Bundesrepublik die Choreografie des Weltspiele-Songs „Are You Ready“ vom norwegischen Duo Madcon tanzen. Besonders emotional wird es ganz sicher, wenn die Special Olympics Flamme ins Stadion kommt und entzündet wird.


Die SOWG können in ihrer Komplexität, der gesellschaftlichen Dimension und der Nachhaltigkeit beispielhaft für olympische Veranstaltungen stehen. Inwieweit spielt der Gedanke einer möglichen „Generalprobe“ für eine erneute Olympia-Bewerbung Berlins eine Rolle in der Vorbereitung und Durchführung der Weltspiele?

Der Gedanke ist naheliegend und wird gerade jetzt in den Wochen vor den Weltspielen ja auch zunehmend in der Öffentlichkeit und den Medien diskutiert. Ich halte es für eine große Chance, mit den Weltspielen zu zeigen, wozu wir als Veranstalter in der Lage sind und dass Deutschland baldmöglichst auch Olympische Spiele und Paralympische Spiele durchführen kann. Die Weltspiele mit ihrem Nachhaltigkeitskonzept und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und Verankerung können ganz sicher ein Beispiel sein für die weiteren Überlegungen zu einer deutsche Olympia-Bewerbung. Vor allem aber werden die Athletinnen und Athleten aus 185 Ländern im Juni 2023 in Berlin mit ihrer unbändigen Lebensfreude, ihrem Mut, ihrer Fairness und im friedlichen Miteinander zeigen, wie die Kraft und die Vielfalt des Sports Menschen zusammenbringen und begeistern kann. Und das ist mindestens ebenso wichtig wie die ökonomischen und logistischen Überlegungen.

 

 

Interview: Sonja Schmeißer
Foto: Juri Reetz


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